Jewhen Konovalets: Litauischer Staatsbürger und Kämpfer für die Unabhängigkeit der Ukraine

Kategorie: Nachrichten

Jewhen Konowalets – Oberst und Organisator des Korps der Sitsch-Schützen. Кyjiw, 1918.Jewhen Konowalets – Oberst und Organisator des Korps der Sitsch-Schützen. Кyjiw, 1918.23.05.2020

"Im großen Drama unserer Tage haben wir die Wahl entweder Opfer oder Schöpfer der Geschichte zu werden." - Jewhen Konowalets

Vor einigen Wochen gaben die zentralen Vertretungen Georgiens, der Ukraine und Litauens am 9. Mai 2020, dem in erster Linie von Russland propagierten Tag des Sieges im sogenannten Großen Vaterländischen Krieg, eine gemeinsame Erklärung ab. Die Organisationen erinnerten an die Verbrechen des Sowjetregimes, seine Verantwortung für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und an die Tatsache, dass dieser Tag für die osteuropäischen Länder keine Befreiung, sondern der Beginn einer Unterjochung, und für einige Länder - der Beginn eines Lebens im Völkergefängnis war – der UdSSR. 

Noch vor Ausbruch des Krieges endete gewaltsam am 23. Mai 1938, an der Ecke der Straßen Koolsingel und Aert van Nestraat in Rotterdam, das Leben eines litauischen Bürgers, eines Ukrainers, der Kontakte staatlichen Organisationen knüpfte, die gemeinsame Interessen hatten und bereit waren, die Unabhängigkeit der Ukraine zu unterstützen. Jewhen Konowalets (1891–1938) war auf der Suche nach Verbündeten, die verstanden, dass die Sowjetunion ein gemeinsamer Feind war.

Litauen war in der Tat ein solcher Partner. Eine weitere Gemeinsamkeit war, dass ein Teil der litauischen ethnischen Gebiete ebenso wie die Westukraine von Polen besetzt waren. Zu dieser Zeit sah Litauen die Ukrainische Militärorganisation (UWO) und mit verbunden die Organisation der Ukrainischen Nationalisten (OUN) unter der Führung von Konovalets als natürlichen Partner an. Oberst Konovalets hatte seine organisatorischen und militärischen Fähigkeiten schon viel früher unter Beweis gestellt. Er war es, der eine der fähigsten ukrainischen Formationen schuf – das Corps der ukrainischen Sitsch-Schützen, welches 1917–1921 eine herausragende Rolle bei der Verteidigung der Unabhängigkeit der Ukrainischen Volksrepublik (UNR) spielte.

Großherzogtum LitauenGroßherzogtum Litauen im SpätmittelalterDiese litauisch-ukrainische Zusammenarbeit war in der Tat konsequent und hatte auch historische Gründe. Fast alle Gebiete der heutigen Ukraine waren damals Teil des Großherzogtums Litauen, welches eines der größten europäischen Staaten des Spätmittelalters war. In diesem Staat spielte die ukrainisch-ruthenischen Elite eine besondere Rolle. Auch die altukrainische Sprache wurde auf staatlicher Ebene verwendet. Daher war Litauen, das als Ergebnis der Revolution von 1918 und des Befreiungskampfes entstand, der erste ausländische Partner der UWO, und gemeinsam betonten und forderten sie in öffentlichen Erklärungen wiederholt die staatliche Unabhängigkeit der von Polen besetzten Westukraine. Seit 1925 hatte die Stadt Kaunas sogar eine ständige Repräsentanz der UWO.

 Litauischer Pass von Jewhen Konowalets Litauischer Pass von Jewhen Konowalets

Angesichts der damaligen Zwischenkriegsbedingungen muss man verstehen, dass die Aktivitäten der UWO nicht immer auf den Prinzipien des Humanismus beruhen konnten, sondern den Herausforderungen der Ära entsprachen. In diesem Zusammenhang ist fraglich, ob eine so bedeutende Persönlichkeit wie der indische Führer des friedlichen Widerstands, Mahatma Gandhi, mit seinen Methoden des gewaltfreien Kampfes den kompromisslosen totalitären Giganten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hätte standhalten können. Wie Osyp Sinkewytsch, Leiter des Smoloskyp-Verlags, in seinem Artikel "Jewhen Konowalets und unsere Zeit" (2011, ukr.) feststellt, "… betrachtete Jewhen Konowalets diese Extreme mit anderen Augen. Der sowjetische Marxismus war für ihn eine Tarnung des russischen Imperialismus, und der deutsche Nationalsozialismus eine Tarnung des eingeschränkten zoologischen Faschismus. Deshalb waren sich Konowalets und seine engsten Vertrauten der ersten Stunde sehr wohl dessen bewusst, dass sich der ukrainische Kampf weder am deutschen Modell des Nationalsozialismus, noch am marxistischen oder kommunistischen russischen Modell orientieren konnte."

Der UWO / OUN-Anführer war kein Hassprediger, Rassist oder übler Antisemit. Er war eine ruhige, bescheidene, aber respekteinflößende Persönlichkeit, die in der Lage war, die ukrainische Befreiungsbewegung zu vereinen.Konowalets und seine Mitstreiter sahen ganz klar den Weg vor sich, auf dem die Idee der ukrainischen Staatlichkeit verwirklichen werden konnte. Sie hatten in der ukrainischen Gesellschaft den Willen zum Befreiungskampf entfacht. Durch ihr Beispiel und ihre Taten wurden sie zu Vorbildern für die nächste Generation von OUN- und UPA-Aktivisten, die sich auch durch engagierte Arbeit und Selbstaufopferung auszeichneten.Der Anführer der OUN mit Sohn Jurko. Foto aus dem Archiv von Swjatoslaw LypowetskyjDer Anführer der OUN mit Sohn Jurko. Foto aus dem Archiv von Swjatoslaw Lypowetskyj

Aus diesen Gründen ordnete der Führer der UdSSR, Joseph Stalin, persönlich die Liquidierung von Konowalets an. Ziel war es, die organisierte Widerstandsbewegung zu enthaupten und gleichzeitig zu beseitigen und "diese Banditen zu zwingen, sich im Kampf um die Macht gegenseitig zu  vernichten".

Alles geschah sehr sorgfältig und symbolisch. Der Attentäter gewann das Vertrauen von Konowalets und machte ihm mit Hoffnungen auf Veränderung und einen Aufstand in der Sowjet-Ukraine. Bei ihrem letzten Treffen überreichte er dem Obersten ein "Geschenk" aus der Ukraine, eine Schachtel Süßigkeiten mit traditionellem ukrainischen Verzierungen.

Der verborgene Sprengsatz detonierte auf der Straße vor dem Hotel und beendete das Leben eines großen Ukrainers. Nach der Ermordung des Obersten Otamanen der Ukrainischen Volksrepublik, Symon Petljura, führte die UdSSR eine weitere erfolgreiche Liquidierung einer bedeutenden Figur der ukrainischen Befreiungsbewegung durch.


Ort des Anschlags auf den OUN-Anführer in RotterdamOrt des Anschlags auf den OUN-Anführer in Rotterdam

Viele Jahre später, am 23. Mai 1958, trafen sich die ehemaligen kompromisslosen Rivalen Stepan Bandera und Andrij Melnyk, die nach dem Tod ihres Anführers über die künftige Ausrichtung der OUN und die Methoden des Kampfes stritten, am Grab des OUN-Obersten und ehrten sein Andenken.

Bei diesem Ereignis konnte übrigens Bohdan Stashynskyj, der Mörder Stepan Banderas, zum ersten Mal einen Blick auf sein zukünftiges Opfer werfen...

P.S.
Auch der Bruder von Jewhen Konowalets, Myron / 1894-1980 / ist einer gesonderten Erwähnung wert: Er war einer der Organisatoren des November-Aufstandes 1918 in Lwiw, mit dem die Abspaltung der ukrainischen Gebiete von Österreich-Ungarn eingeläutet wurde, Leutnant der UHA (Ukrainische Galizische Armee), Mitglied der UWO und Journalist. Myron war langjähriger Sekretär der „Ridna Schkola“ (Ukrainische Schule, München), die heute Teil des Dachverbandes der Ukrainischen Organisationen in Deutschland ist. Bestattet wurde er auf dem Waldfriedhof in München. 

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