Russische Aggression

"Was hat das russische Volk damit zu tun?" Was die Deutschen nicht verstehen....

30.10.2022

(Hinweis: der nachfolgende Техт ist die Übersetzung eines Facebook Posts des ukrainischen Autors und Trägers des Friedenspreises de deutschen Buchhandels)

Das deutsche Publikum zerbricht an der Frage zur Haltung der Ukrainer gegenüber Russen.

Serhij ZhadanIch habe in den vergangenen Wochen Gespräche mit vielen Deutschen geführt. Die Gespräche sind interessant, manchmal komplex, manchmal ziemlich ehrlich und offen. Und was einem dabei ins Auge fällt – trotz der Tatsache, dass die deutsche Gesellschaft in ihrer überwältigenden Mehrheit (subjektiv – in ihrer absoluten Mehrheit) die Ukraine in dem Wunsch unterstützt, ihre Freiheit und ihre Territorien zu verteidigen, landet man bei Gesprächen über den Krieg immer noch in einer Sackgasse. Normalerweise zerbricht das deutsche Publikum bei der Frage zur Haltung der Ukrainer gegenüber Russen. Eine negative Einstellung - klar. Aber was hat das mit dem russischen Volk zu tun? Und wozu in diesem Zusammenhang Diskussionen über die russische Kultur? Es gibt natürlich einen schlechten Putin, aber wir sollten ihn von der russischen Gesellschaft getrennt betrachten. Sonst wird es irgendwie unkonstruktiv, zu scharf, zu emotional.

Das ist ein sehr bequemes System von Definitionen, eine sehr bequeme Sichtweise, in der es einen „Putin-Krieg“, „Putins Armee“ und „Putins Russland“ gibt. Allerdings gibt es kein Putin-Russland. Es gibt einen russischen Putin. Der kollektive unterbewusste Putin (obwohl, warum unterbewusst? – vollständig bewusst und bei klarem Verstand), den die russische Gesellschaft so lange genährt hat, und der für die russische Gesellschaft vollkommen akzeptabel, ja geradezu lebenswichtig ist. Er fügt sich gut ein, weil er die von ihnen verlangten unabdingbaren Ideen von Revanchismus, Fremdenfeindlichkeit und Imperialismus bedient und verbreitet.

Einige Europäer versuchen, geleitet von ihren Vorstellungen von Weltfrieden, weiterhin hartnäckig, die russische Opposition, russische Demokraten und russische Dissidenten voneinander zu trennen. Es gibt einen klaren Unterschied in ihrer Vorstellung: Hier sind der böse Putin und die Kriegspartei, und hier die gewöhnlichen Russen, die Geiseln des Regimes sind. Woher kommt diese Trennung? Größtenteils von langjährig aufgebauten Komplexen und mangelnder Informiertheit. Wenn die loyal zu Russland stehenden Europäer die Möglichkeit hätten, die Stimmungen in den russischen sozialen Netzwerken im Detail einzuordnen, dann kämen sie nicht umhin zu bemerken, dass der Krieg in der Ukraine (und nicht nur der Krieg – sondern die Liquidierung der Ukraine als solche, die Ausrottung des Ukrainertums, was im russischen Weltbild als akzeptabel gilt)

nicht von einer kurzlebigen Partei des Krieges mit Nähe zum Kreml unterstützt wird – nein, diese Narrative werden von Dutzenden, wenn nicht Hunderten von Bloggern und „Meinungsführern“ weiterverbreitet. Und Hunderte, wenn nicht Tausende von „gewöhnlichen“, „einfachen“, „Durchschnitts“-Russen, also jenen Russen, deren Fremdenfeindlichkeit und Chauvinismus gute Europäer hartnäckig übersehen wollen, kommentieren dies positiv. Darüber hinaus nehmen „gewöhnliche Russen“ bemerkenswerterweise auch die „guten Europäer“ nicht wahr, mögen sie nicht und betrachten sie sogar als strategische Feinde. Darüber könnten sich die „guten Europäer“ auch selbst recht einfach und schnell ein Bild im russischen Informationsraum machen.

Ungenaue und fehlerhafte Definitionen sollten nicht ständig wiederholt werden. Es gibt keine Putin-Aggression. Es gibt eine russische Aggression. Und die Reaktion der ukrainischen Gesellschaft auf diese Aggression, auf Kriegsverbrechen, auf Massaker ist voll und ganz verständlich und vorhersehbar.

Wie sollten die Ukrainer nach Ansicht der Gegner harter Aussagen und scharfer Einschätzungen diejenigen behandeln, die gekommen sind, um sie zu zerstören? Ja, zu zerstören: Töten, foltern, zu Tode prügeln, leiden lassen, in Massengräbern begraben. Wie sollten Sie den Mörder im eigenen Haus behandeln? Mit Empathie? Christlicher Demut? Das Christentum impliziert, soweit ich mich erinnere, keine Ohnmacht und Schicksalsergebenheit, es beruht auf Liebe, deren eine Manifestation der Schutz des Nächsten ist. Oder sollten wir in der Gesellschaft von Pazifisten einfach nicht über das Christentum sprechen?

Den verehrten Europäern möchte ich sagen: Sucht nicht dort nach Freiheitskämpfern, wo die Freiheit als schädliches Nebenprodukt angesehen wird. Die Russen sind mit den Haftbedingungen ihres Gefängnisses unzufrieden, nicht mit dem Gefängnis selbst. Indem ihr die kollektive Verantwortung der Russen für diesen schändlichen, blutigen Krieg leugnet, rechtfertigt ihr einfach fremde Verantwortungslosigkeit. Wie sich das für euch anfühlt, kann ich vermutlich nicht wissen, aber es scheint ganz bequem zu sein.

Wenn ihr die heutigen Probleme Russlands auf einen abstrakten Putin reduziert und dabei den imperialen Chauvinismus ignoriert, der in der russischen Gesellschaft weit verbreitet ist, gebt ihr dem Drachen Futter. Und dem Drachen ist es im Großen und Ganzen egal, wer ihn füttert. Er hasst sowieso jeden.

 Quelle: Facebook-Post, Serhij Zhadan (aus dem Ukrainischen übersetzt)

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