Holodomor-Artikel

Holodomor in der Ukraine 1932-33: Völkermord mitten in Europa

hd logo03Die Frage der organisierten Hungersnot in der Ukraine Anfang der 30er Jahre verliert auch heute nicht an Aktualität. Damals ließen innerhalb eines kurzen Zeitraums viele Millionen Ukrainer ihr Leben.

In einer Zeit, in der sich im globalen Kontext immer häufiger autoritäre Tendenzen erkennen lassen, ist ein Blick in die Vergangenheit hilfreich. Der Holodomor ist ein lange Zeit totgeschwiegenes, nicht aufgearbeitetes Kapitel der europäischen Geschichte des Totalitarismus, welches auf Anerkennung und Würdigung wartet.

Wir als Dachverband der Ukrainischen Organisationen in Deutschland begrüßen und unterstützen die im deutschen Bundestag eingereichte Petition 89118 "Anerkennung des Holodomor 1932-1933 in der Ukraine als Genozid" vom 14.12.2018, welche auf einer privaten Initiative basierte.

Es handelt sich nicht um den ersten Versuch, das Thema in Form einer an den Bundestag gerichteten Petition in die Öffentlichkeit zu bringen. Bereits 2007 wurde eine ähnliche Initiative, allerdings auf Organisationsebene, von vielen deutsch-ukrainischen Organisationen ins Leben gerufen. Es folgten weitere, die letzte wurde im September 2017 vom Bundestag abschließend beraten und abgelehnt.

Wir sind davon überzeugt, dass der Holodomor 1932-33 ein Verbrechen war, welches gegen ukrainische Bauern als Gruppe gerichtet war. Die Tatsache, dass auch andere Volksgruppen, insbesondere Kasachen, deren Leiden niemand infrage stellt, unter dem künstlichen Hunger zu leiden hatten, widerspricht keineswegs dieser Aussage. Es würde niemand den Holocaust als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzweifeln, weil auch Slawen sowie Sinti und Roma Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik waren.

Die Bolschewiki hatten bereits im Bürgerkrieg nach dem Ende des Ersten Weltkrieges die Ukraine als explosiv und gefährlich kennengelernt. Eine Gefahr, welche in ihren Augen die Existenz der Sowjetunion infrage stellen konnte. Auch galt das alte russische Stereotyp, welches in national gesinnten Ukrainern primitive Wilde und Verräter sah.

Zu dieser Zeit lebte die Mehrheit der Bevölkerung auf dem Land und gehörte der bäuerlichen Schicht an. Der Umzug in die Stadt, die eine Art Schmelztiegelfunktion hatte, ging nicht selten mit einer Anpassung an das Russische einher, bei der versucht wurde, die eigene „Minderwertigkeit“ abzulegen. Eine Situation, die sich mit der Lage der Iren oder der nordamerikanischen Indianerstämme vergleichen lässt.

"Wenn wir jetzt nicht handeln, könnten wir die Ukraine verlieren."

Stalin und Kaganoytschschrieb Stalin am 11. August 1932 an seinen Vertrauten, den Volkskommissar Lasar Kaganowitsch. Anfang der 30er Jahre war es in der Ukraine wieder zu massiven Aufständen und Revolten gekommen.

Die Historikerin Ljudmyla Hrynewytsch spricht von einer weit verbreiteten feindseligen Haltung gegenüber dem Regime der Bolschewiki. Zwar gab es überall in der Sowjetunion Widerstand gegen die Bolschewiki, jedoch war er in der Ukraine besonders stark und eng mit der nationalen Frage verflochten. Hrynewytsch spricht von Revolten, an denen sich im Laufe eines Jahres bis zu einer Million Menschen beteiligten.

Auffällig war auch, dass etwa 85% der Roten Armee in der Ukraine aus den inneren Gouvernements Russlands mobilisiert waren. Hrynewytschs Schlussfolgerung basiert auf der Analyse einer Vielzahl von Dokumenten der sowjetischen Geheimpolizei OGPU, teilweise aus russischen Archiven, in denen der psychologisch-mentale Zustand der Gesellschaft dokumentiert und soziologische Expertisen ausgewertet wurden.

Die Bolschewiki hatten bereits “positive” Erfahrungen mit Hungersnöten in den Jahren 1921, 1924-25, und 1928-29 sammeln können. Es hatte sich erwiesen, dass die Bereitschaft zu Revolten unter Bedingungen extremen Hungers stark nachließ.

Ein weiteres effektives Mittel war der allumfassende rote Terror, auch gegen die ukrainische intellektuelle Elite, die deportiert, liquidiert oder in den Selbstmord getrieben wurde. Sie und die schwer auszumachende Klasse der “Kurkulen” bzw. “Kulaken” wurden als Schädlinge deklariert, dehumanisiert und zu Feinden des sozialistischen Fortschritts erklärt. Es wurde zunehmend gefährlich, sich als ukrainisch sprechender und denkender Mensch erkennen zu geben.

holodomor press chicagoViele Gründe sprechen heute dafür, dass der Holodomor nicht einfach ein bedauerlicher Nebeneffekt einer Umstrukturierung der Wirtschaft war. Der Holodomor 1932-33 entstand als Ergebnis einer genau geplanten Politik des Kremels. Die von den Bolschewiki in diesen Jahren zur Unterwerfung der ukrainischen Bauern eingesetzten Methoden waren in ihrer Kombination einzigartig und hatten katastrophale Folgen. Unerfüllbare Plansolls, die totale Isolierung der Hungernden, die massenhafte Konfiszierung sämtlicher Lebensmittel, das Verbot die Hungerbiete zu verlassen, eine Informationsblockade und die Weigerung ausländische Hilfe anzunehmen waren Teil dieser perfiden Strategie. In diesem Sinne kann man durchaus von einem hybriden Krieg des Sowjetregimes gegen ukrainische national gesinnte oder zumindest ukrainisch-autonomistische Bevölkerungsschichten sprechen. Die gesperrten Gebiete lassen sich dabei mit Konzentrationslagern vergleichen, deren Insassen durch Erschöpfung, Hunger oder psychische Schädigung ihr Leben ließen.

Dass auch Ukrainer am Holodomor, insbesondere in den Requirierungskommandos, beteiligt waren ist kein Argument, mit dem dieses Verbechen gegen Ukrainer infrage gestellt werden kann. Im Gegenteil, es ist ein weiters Indiz dafür, dass die Politik des Kremels vielschichtig und durchdacht war. Schon der Schöpfer des Begriffs "Genozid", der amerikanische, polnisch-jüdische Jurist, Raphael Lemkin, sagte mit Blick auf den Holodomor, den er für ein klassisches Genozid-Beispiel hielt:

Raphael Lemkin - Schöpfer des Terminus Genozid"Wenn das sowjetische Programm Erfolg hätte, wenn die intellektuelle Elite, Priester und Bauern vernichtet würden, dann wäre die Ukraine tot, so als ob jeder einzelne Ukrainer getötet worden wäre. Die Ukraine würde den Teil ihrer Bevölkerung verlieren, der zum einen die Kultur unterstützt und fördert, ihre gemeinsamen Ideen und Glaubenssätze pflegt und zum anderen der Ukraine ihre Seele gibt, welche sie zu einer Nation macht und nicht zu einer bloßen Menschenmasse."

Die Folgen dieses hybriden Krieges haben die ukrainische Gesellschaft maßgeblich geprägt und verändert. Der US-amerikanische Holodmorforscher James Mace kam zu dem Schluss, dass die ukrainische Gesellschaft aufgrund dieses unfassbaren Verbrechens traumatisiert wurde und bis heute eine traumatisierte postgenozidale (und auch postkoloniale) Gesellschaft geblieben ist.

Der Holodomor zerstörte unzählige Familien und führte zur Vernichtung der „ukrainischen Welt“ der Vor-Holodomorzeit. Der Widerstand des Dorfes war gebrochen, die überlebenden Menschen wurden abhängig von Lebensmittelhilfen des Staates, dem sie fortan völlige Loyalität und Ergebenheit schuldeten. Die Sowjetführung hatte damit auch ihr Ziel erreicht, die Ukraine zu befrieden. Diese Post-Holodomor-Ukrainer zeichneten sich häufig durch Gleichgültigkeit und politische Apathie gegenüber Gesellschaftsfragen aus. Zudem litten sie an Schuld- und Schamgefühlen.

gareth jonesVor der Weltgemeinschaft wurde dieses Verbrechen lange Zeit verborgen. Es galt als eines der größten Geheimnisse des Sowjetregimes, obwohl bereits 1933 die beiden westlichen Journalisten Malcom Maggeridge und Gareth Jones sich ein Bild von der Lage machen konnten.

Dankenswerterweise wurde und wird Forschungsarbeit auf Expertenebene geleistet und die Einrichtung der Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission ist zu begrüßen und wird geschätzt. Die Problematik der westlichen historischen Wissenschaftsgemeinde beruht darin, dass sie sich häufig auf Sekundärliteratur stützt und nicht selten von alten sowjetisch-russischen Stereotypen beeinflusst ist. Dabei darf auch nicht außer Acht gelassen werden, dass der russische Staat keine offene Demokratie ist, auch keine gelenkte. Der Zugang zu russischen Archiven ist stark eingeschränkt und der geschichtliche Diskurs wird vom Kreml diktiert. Überdies pflegt der autoritäre russische Staat die Erinnerung an die sowjetische Vergangenheit, verherrlicht Stalin, der persönlich den Holodomor zu verantworten hatte und spricht einer ukrainischen Ukraine das Existenzrecht ab, häufig mit pseudowissenschaftlichen Begründungen. Nicht vergessen werden sollte auch, dass Russland heute einen hybriden Krieg gegen die Ukraine führt und gleichzeitig versucht, Europa zu unterwandern.

Anne Applebaum: Roter HungerEmpfehlen können wir in diesem Zusammenhang die inzwischen auch auf Deutsch erschienene populärwissenschaftliche Publikation “Roter Hunger” der Historikerin und Pulitzer-Preisträgerin Anne Applebaum, die intensiv in ukrainischen Archiven geforscht hat.

Deutschland glänzt bislang dank seiner beispielhaften Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen, von denen ein wesentlicher Teil ebenfalls auf dem Gebiet der Ukraine stattfanden. Es sollte auch in der Verantwortung der Bundesregierung liegen, auf solche Verbrechen aufmerksam zu machen, seien sie in der Gegenwart oder in der Vergangenheit, wie dies durch die mutige Anerkennung des Genozids an den Armeniern bereits geschehen ist.

Die Wichtigkeit des Holodomor-Themas wurde bereits vor Jahrzehnten von der ukrainischen Diaspora, vor allem in den USA und Kanada, erkannt und gefördert. Auch in Deutschland fand schon 1948 in München eine erste Demonstration zur Erinnerung an das große Verbrechen statt.

Nicht zuletzt dank des unermüdlichen Einsatzes des ukrainischen Weltkongresses fand die Kultur der Erinnerung ihren Weg zurück in die Ukraine und trägt seitdem zu einem revidierten Blick auf die sowjetische Vergangenheit bei.

Wir wünschen den Initiatoren der aktuellen Petition viel Erfolg und freuen uns über das Interesse und die öffentliche Unterstützung. Auch wir als Dachverband unterstützen die Initiative und werden unsere Arbeit auf diesem Gebiet weiter fortsetzen.

Der Vorstand des Dachverbandes der Ukrainischen Organisationen in Deutschland e.V.

Quellen:

Heute1838
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