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Der russische Angriffskrieg und der Wert von Menschenleben

Kategorie: Expertenartikel

09.03.2025

Witalij Portnikow, jüdisch-ukrainischer JournalistDer Krieg Russlands gegen die Ukraine ist nicht nur ein geopolitischer Konflikt, sondern auch ein Ausdruck fundamentaler Unterschiede in der Wertschätzung des menschlichen Lebens. Während demokratische Gesellschaften den Schutz des Individuums als oberstes Gut betrachten, zeigt die russische Kriegsführung, dass Menschenleben als entbehrliche Ressource betrachtet werden.
Menschenleben haben hat in Russland einen viel geringeren Wert als in den Vereinigten Staaten. Wenn es um große Kriege geht, gewinnt in der Regel der Staat, in dem Menschenleben weniger geschätzt werden. Der Staat, in dem das Leben höher geschätzt wird, verliert meistens. Dies zeigt sich deutlich am Verlauf des Zweiten Weltkriegs.

Hitler konnte Frankreich erobern, weil die Franzosen schlichtweg nicht bereit waren, für den Widerstand ihr Leben zu opfern. Dasselbe galt für die Tschechen und die Niederländer. Die Mehrheit der Bevölkerung war bereit, sich dem Reich zu unterwerfen, nur um Zerstörung und Tod zu vermeiden. Die Briten hingegen kämpften auf ihrer Insel in einer anderen Ausgangssituation und hofften, eine Invasion abzuwehren. Länder wie Polen, die bereit waren zu kämpfen, gehörten zu Imperien, in denen der Wert des Menschenlebens – sei es unter russischer oder österreichisch-ungarischer Herrschaft – niedriger war als in Frankreich oder den Niederlanden.

Auch heute noch bleibt der Wert eines Menschenlebens in Russland gering. Der Misserfolg des Dritten Reiches war nicht nur darauf zurückzuführen, dass Deutschlands Mobilisierungspotenzial geringer war als das der Sowjetunion. Vielmehr lag es daran, dass Deutschland gegen einen Staat kämpfte, in dem ein Menschenleben gar keinen Wert besaß. Die Sowjetunion konnte deutsche Schützengräben mit Hunderttausenden, ja Millionen eigener Soldaten überrennen – ohne Rücksicht auf Verluste. Niemand kann mit Sicherheit sagen, wie viele sowjetische Bürger im Zweiten Weltkrieg tatsächlich gestorben sind, da diese Millionen niemals gezählt wurden.

Heute setzt Russland dieselben Methoden ein. Wenn russische Soldaten bedenkenlos ihr Leben opfern, um eine Stadt im Donbass zu erobern, die für Moskau keine strategische Bedeutung hat – warum sollte man dann im Kreml Angst vor einem Atomkrieg haben? Die Bevölkerung mag Angst haben, aber Putin könnte glauben, dass er in einem Bunker überleben wird.
Um Kriege zu verstehen, muss man begreifen, dass sie ausschließlich über den Preis von Menschenleben entschieden werden. Je weniger eine Zivilisation das Leben wertschätzt, desto größer sind ihre Chancen auf den Sieg. Deshalb konnten einst die Barbaren Rom zerstören – nicht umgekehrt. Solange Rom wie die Barbaren agierte und ganze Völker, wie die Daker, vollständig vernichtete, triumphierte es. Aber als erste Anzeichen von Humanismus aufkamen, begann der Niedergang Roms.
Die europäische Zivilisation betrachtet sich als Zivilisation des Humanismus. Die Stärke der Vereinigten Staaten liegt hingegen nicht im Humanismus, sondern in der Freiheit – ein System, in dem Humanismus nicht zwingend erforderlich ist. Die ukrainische Zivilisation basiert auf dem Prinzip der Freiheit, während die russische Zivilisation von absoluter Knechtschaft geprägt ist.
In einem Konflikt zwischen einer Zivilisation der Freiheit, des Humanismus und einer Zivilisation der Knechtschaft stehen Freiheit und Humanismus langfristig oft auf verlorenem Posten. Sobald Tyrannei auf die Grenzen des Humanismus trifft, bricht Panik aus – denn die Menschen fürchten den Tod. Genau deshalb kann Russland Amerika erpressen: Die Russen betrachten den Tod nicht in derselben Weise wie die Amerikaner.

Sollte der Krieg in den 2030er Jahren nicht enden, könnte er tatsächlich zum „Krieg bis zum letzten Ukrainer“ werden – ein schreckliches Szenario. Doch es geht nicht nur darum, ob die Ukrainer als politische Nation überleben. Vielmehr droht das Verschwinden der Ukrainer als ethnische Gruppe. Russland wird keine Fehler wiederholen, die es in den 1920er Jahren gemacht hat, als es eine ukrainische Sowjetrepublik schuf und damit das eigenständige Existenzrecht der Ukrainer und Belarussen anerkannte. Dies wird nicht noch einmal geschehen.

Die Russen betrachten die besetzten Gebiete nicht als Teil der Ukraine, sondern als Teil Russlands. Die Region Saporischschja ist für sie Russland, und dort leben ihrer Auffassung nach Russen. Sie versuchen nicht, eine prorussische Ukraine zu erschaffen – sie löschen die Ukraine vollständig aus. Das bedeutet, dass die ethnischen Ukrainer in den besetzten Gebieten entweder vernichtet, vertrieben oder assimiliert werden. Die ukrainische Sprache wird in diesen Regionen ausgelöscht, die ukrainische Kultur und Geschichte werden zu archäologischen Relikten.

Es wird keinen dritten Versuch zur Wiederherstellung der ukrainischen Staatlichkeit und Nation geben. Deshalb ist es entscheidend, diese zweite und letzte Chance zu ergreifen. Andernfalls bleibt den Ukrainern nur das Schicksal einer Exilnation, die sich allmählich in anderen Kulturen auflöst. Als Angehöriger eines Volkes, das 2000 Jahre lang um seine Staatlichkeit kämpfte und nur aufgrund seiner einzigartigen Religion überlebte, wünsche ich den Ukrainern nicht dieses Schicksal. Deshalb warne ich: Es muss gekämpft werden, um die Staatlichkeit zu erhalten.

Der Krieg könnte sich über Jahrzehnte hinziehen, aber das Ziel muss sein, ihn zu beenden. Dies erfordert die wirtschaftliche und demografische Schwächung Russlands, das Erlangen westlicher Sicherheitsgarantien und die klare Einsicht, was auf dem Spiel steht. Den Verbündeten der Ukraine muss dringend klar gemacht werden, dass Putin gestoppt werden muss und ein Friedensschluss mit Sicherheitsgarantien für die Ukraine unabdingbar ist. Diese Ziele müssen in den kommenden Jahren konsequent verfolgt werden.

Witalij Portnikow
Jüdisch-ukrainischer Journalist
(Videoblog, Youtube; "Das Jahr der Realisten" (ukrainisch))

 

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